Vor einigen Tagen war ich wieder
einmal im Krisengebiet. Mein letzter hier dokumentierter Besuch ist schon
ein paar Jahre her. Was hat sich verändert? Ist es ruhiger geworden?
Konnten sich die führenden Parteien innerhalb dieser Region einigen?
Was hat sich zwischen den beteiligten Parteien an neuen fördernden
Kontakten getan? ...gibt es eine friedvollere Zukunft?
Mit diesen Gedanken gehe ich
am frühen Morgen des gleichen Tages, an dem der Bericht von damals
begann, durch die Reihen der offensichtlich immer noch verfeindeten Parteien.
Es scheint inzwischen kleinere Splittergruppen zu geben, die auf eigene
Rechnung ihren Interessen nachgehen.
„Halt! Sie müssen stehenbleiben.“
Der strenge Ton passt so gar nicht zu dem Lächeln der kleinen blonden
Frau. Bereitwillig bleibe ich abrupt stehen. Und jetzt? Ja, so einfach
kann es sein: ich werde um eine Spende für eine der neuen Splitter-Parteien
gebeten. Sie ist mit ein wenig Kleingeld zufrieden und bedankt sich sogar
im Namen der einen, für mich noch unbekannten Gruppe. „Wir sind schon
mit wenig zufrieden. Anders als die da vorne, die Großen. Na, die
haben allerdings auch mehr Kosten“. Und dann ist ihre Aufmerksamkeit von
mir weg, da vorne kommen ihre nächsten Opfer. Das sieht aus wie Touristen.
Krisengebiets-Touristen und dann am heißesten Tag des Jahres. Wahrscheinlich
wissen die nicht einmal, was hier wirklich abläuft.
Im Weitergehen entdecke ich den
Späher der ersten großen Gruppierung. Er hat sehr genau beobachtet,
das ich eben gerade etwas gespendet habe. Sicher bin ich gleich wieder
dran, denn Geldmittel sind für alle hier sehr wichtig. Es sind eben
enorme Materialkosten, die hier alle sehr belasten. Da kommt schon ein
sehr kleiner, dicker Rotgesichtiger auf mich zu. Doch dann.. plötzlich
ist alles anders, Alarm.
Aufgeregtes Gemenge beim Materiallager.
Offensichtlich ist es einigen Eindringlingen gelungen aus dem noch nicht
gesicherten Materialeingangsbereich Teile zu entwenden, die in einigen
Stunden sicher dringend benötigt werden. Sofort wird ein Team von
mehr oder weniger Freiwilligen hinter den jetzt Flüchtenden losgehetzt.
Und es gelingt den Verfolgern tatsächlich einen kleinen Teil des Materials
wieder sicher zurückzuholen. Ein anderer Teil geht unter dem lauten
Gejohle der Diebe in Flammen auf. Es scheint dieser Gruppe Freude zu bereiten
Schaden zuzufügen, auch wenn sie dafür einiges einstecken müssen.
Durch das ganze Durcheinander
bin ich aus dem Einflussbereich aller Gruppen auf neutrales Gelände
entkommen. Hier kann ich jetzt aus der sicheren Entfernung meinen Gedanken
freien Lauf lassen. Wie war das noch vor ein paar Jahren... es begann am
frühen Morgen...
Im Morgengrauen ist noch alles
ruhig. Die Nachtwache hat eine Nacht ohne besondere Vorkommnisse hinter
sich. Trotzdem spürt man die Unruhe, die in jedem der Beteiligten
steckt. Man weiß heute abend wird es heiß, heute abend werden
Tausende, Zehntausende direkt beteiligt sein. Was war in der letzten Nacht?
In der letzten Nacht wurde der
Unterstand zerstört, er war nur kurz nicht ausreichend gesichert und
schon war es passiert. Die Gegner kamen ungesehen wieder auf ihr Territorium.
Es muß sehr schnell gegangen sein. Zu schnell, um noch eine Verteidigung
zu organisieren. Zumindest waren keine Verluste an Menschen zu beklagen,
der Verlust an Material wurde durch neue Lieferungen, an den feindlichen
Lagern vorbei wieder ausgeglichen. Heute sehr früh wurde hart gearbeitet,
damit der Unterstand wieder benutzbar wurde. Er ist jetzt von allen Seiten
gesichert und bietet eine geschützte Aussicht auf den Materialplatz.
Es wird langsam hell...
Jetzt kommt zögernd die
Sonne durch, ein strahlender, aber kalter Tag kündigt sich an. Die
müden fröstelnden Wachen werden verstärkt. Aufmerksam, wenn
auch noch ein wenig schläfrig, werden die jetzt auch langsam reger
werdenden Gegner beobachtet. Jede noch so kleine Bewegung im nahen feindlichen
Lager wird registriert. Unabhängige Kommissionen und stille Beobachter
sind offensichtlich gar nicht so unabhängig und still. Immer wieder
werden unschätzbare Informationen über die Gegner streng vertraulich
preisgegeben. Man scheint in unserer verunsicherten Führung mit einem
erneuten Angriff zu rechnen. Noch einmal würde man die Zerstörung
des Unterstandes und einen eventuellen Materialverlust nicht schadlos überstehen.
Also muß man ungewöhnliche Gegenmaßnahmen ergreifen die
wirken, ehe der Feind mit einem massiven Angriff die Lage zu seinen Gunsten
entscheidet. Wie kann das wohl gehen?
Die besten und schnellsten Leute
werden ausgesucht. Es muß wie der Blitz innerhalb von wenigen Momenten
agiert werden. Ehe der auch noch müde Feind begreift, was los ist,
muß diese unangenehme Sache erledigt sein. Mindestens eine zu kidnappende
Geisel, die beim Feind eine strategisch wichtige Funktion hat, muß
im vorderen Bereich der eigenen Anlagen sichtbar und doch sicher inhaftiert
werden. Die wahrscheinlich einzige Möglichkeit den Feind an dem befürchteten
Generalangriff zu hindern, bevor die unsere längst überfällige
Verstärkung da ist. Ob es uns gelingt?
Jetzt treffen die ersten röhrenden
hoch beladenden LKW´s mit dringend benötigtem Material ein.
Beim immer beobachteten Feind scheint sich das gleiche arbeitssame Treiben
abzuspielen. Das ist genau der richtige Moment. Jetzt muß es blitzschnell
gehen. Gleichzeitig müssen die eigenen Wachen verstärkt werden.
Alle müssen zusammenarbeiten, nur dann kann es gelingen. Jetzt oder
nie...
Tatsächlich, es gelingt
unbemerkt in den gegnerischen Vorhof zum Kommandoplatz einzudringen. Dort
sind alle übernächtigten Gegner mit der vollen Aufmerksamkeit
bei den schwer zu bewegendenden Materialanlieferungen. Jetzt muss es geschehen.
Der etwas unaufmerksame Leiter des gegnerischen Angriffs ist einen kurzen
Moment allein, etwas Abseits von den anderen. Er wird blitzschnell überwältigt,
sofort möglichst leise abtransportiert und mit jetzt großer
Aufmerksamkeit erzeugenden Krach in das schnell erstellte, stark bewachte
Gefängnis geschafft. Und nun...
Ein greller Aufschrei des blanken
Entsetzens geht durch die Reihen des aufgeschrekten Feindes, als dort in
Windeseile bekannt wird, was geschehen ist. Durch von uns gesteuerte gezielte
Information der unabhängigen Beobachter und unseren gewollten Lärm
ist das in wenigen Minuten der Fall. Ungeheuerlich: Geiselnahme ist eigentlich
verboten. Es wird sicher wieder irgendwelche Kommisionen geben, die hier
später etwas untersuchen können. Aber, es ist erreicht: der Feind
wird nicht mehr angreifen, solange die Geisel sicher bei uns inhaftiert
ist. Die Zeit scheint schneller zu Laufen, ein Wettlauf mit den Uhrzeigern
hat begonnen.
Es geht um immer schneller laufende
Stunden, in denen die Geisel sicher in Gewahrsam bleiben muß. Diese
wenigen verbleibenden Stunden werden genutzt um Material zu häufen,
anzuhäufen. Beim ungeliebten Feind findet das Gleiche emsige Treiben
statt. In kurzer Zeit ist dort der Schock der Geiselnahme überwunden
und jetzt konzentrieren sich beide Seiten nur noch auf die Vorbereitung
der abendlichen Materialschlacht. Wer wird es schaffen?
Die "unabhängigen" Beobachter
und "neutralen" Kommissionen sind kurz davor doch noch massiv in das Geschehen
einzugreifen. Es geht schließlich heute um alles oder nichts. Nach
Stunden härtester Arbeit auf beiden Seiten, ist es schließlich
so weit. Jetzt wird die Geisel freigelassen, da zu diesem Zeitpunkt keine
Angriffe mehr erfolgen werden, weil sie nicht mehr erfolgen können.
Überall sind jetzt unparteiische Menschenmassen, menschliche Schutzschilde
am Werk.
Es sind inzwischen unübersehbare
Menschenmassen eingetroffen, die zwischen den schweissnassen Parteien stehen.
Zehntausende (oder sind es gar Hunderttausend) wollen heute abend das Schauspiel
beobachten. Kaum einer von ihnen weiß um die Machtspiele, die hier
seit Wochen abgelaufen sind. Die wirklichen Hintergründe sind nur
den hier wohnenden Insidern bekannt. So sind eben die Vorspiele zu den
Osterfeuern in Blankenese. Wer hat heute abend wohl das grösste Feuer?
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